Einzelkinder wollen immer ihren Willen durchsetzen, können nicht teilen und sind in der Regel egoistisch – so lautet das altbekannte Vorurteil. Nach neueren Forschungen sind diese Behauptungen jedoch übertrieben. Woher kommen diese Vorurteile?
In der im 19. Jahrhundert veröffentlichten Studie „A Study of Peculiar and Exceptional Children“ beschrieb E. W. Bohannon von der Clark University in Massachusetts die Ergebnisse eines Fragebogens – einer damals neuen Form der Datenerhebung -, der von 200 Probanden ausgefüllt wurde. Darin hatte er die Befragten nach den Eigenheiten von ihnen bekannten Einzelkindern gefragt. In 196 Fällen beschrieben die Teilnehmer Kinder ohne Geschwister als übermäßig verwöhnt.
Bohannons Kollegen stimmten den Ergebnissen zu und die Idee setzte sich durch. Die weit verbreitete Skepsis gegenüber Einzelkindern wurde noch dadurch verstärkt, dass Familien der Mittelschicht immer weniger Kinder bekamen und die privilegierte Klasse der Gesellschaft ein Anwachsen der „Unterschicht“ befürchtete. Darüber hinaus gab es im frühen 20. Jahrhundert die Befürchtung, dass das Aufwachsen ohne Geschwister dazu führt, dass Kinder hypersensibel werden: Wenn die Eltern all ihre Sorgen und Ängste auf einen Sprössling konzentrierten, würde dieses Kind überempfindlich und schließlich ein Hypochonder mit schwachen Nerven werden.
Nach Daten aus dem 21. Jahrhundert sind diese Vorstellungen jedoch Unsinn und nur Kinder zeigen keine gravierenden Defizite. Toni Falbo, Psychologin an der University of Texas in Austin und selbst ein Einzelkind, widerspricht der Vorstellung, dass man Brüder und Schwestern braucht, um zu einem anständigen Menschen heranzuwachsen. In ihrer Studie von 1986, für die sie mehr als 200 Studien zu diesem Thema untersuchte, kam sie zu dem Schluss, dass sich die Eigenschaften von Kindern mit und ohne Geschwister nicht unterscheiden. Der einzige Unterschied sei, dass Einzelkinder im Vergleich zu Geschwisterkindern eine stärkere Bindung zu ihren Eltern zu haben schienen.
Diesen Gedanken bestätigte später eine Studie aus dem Jahr 2018, in der Andreas Klocke und Sven Stadtmüller von der Frankfurt University of Applied Sciences anhand von Längsschnittdaten von rund 10.000 deutschen Schulkindern den Eigenheiten von Erstgeborenen, Einzelkindern und solchen mit Geschwistern auf die Spur kamen. Sie untersuchten unter anderem die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung, gemessen daran, wie leicht es einem Kind fiel, mit seinen Eltern über wichtige Dinge zu sprechen.
Fünfundzwanzig Prozent der Einzelkinder schätzten die Beziehung zu ihren Eltern als positiv ein. Knapp 24 Prozent der Erstgeborenen, 20 Prozent der mittleren Kinder und 18 Prozent der jüngsten Kinder berichteten ebenfalls von einer sehr guten Beziehung zu ihren Eltern.
Trotz der starken Bindung zu ihren Eltern bedauern Einzelkinder oft, ohne Geschwister aufgewachsen zu sein. Lisen Roberts von der Western Carolina University und Priscilla Blanton von der University of Tennessee Knoxville haben 2001 junge Erwachsene gebeten, auf ihre Kindheit zurückzublicken. Viele fanden es besonders schade, dass sie keinen vertrauten Spielkameraden hatten, wie diejenigen mit Geschwistern. Tatsächlich entwickelten Einzelkinder im Vorschulalter oft imaginäre Freunde, mit denen sie Verbündete sein und alltägliche Dinge teilen konnten. Doch es gibt keinen Grund zur Sorge – das kreative Spiel mit imaginären Gefährten fördert die soziale Entwicklung und die Kommunikationsfähigkeit.
Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass Einzelkinder weniger bereit sind, sich mit anderen zu arrangieren. In neuen Erkenntnissen aus China, wo die Ein-Kind-Politik fast vier Jahrzehnte lang die Familienplanung diktierte, untersuchten Forscher um die Psychologin Jiang Qiu von der Southwest University in Chongqing 126 Schüler ohne und 177 mit Geschwistern in Bezug auf Denkfähigkeit und Persönlichkeit. In einer Untersuchung erreichten nur die Kinder niedrigere Werte in Bezug auf ihre Toleranzfähigkeit. Nach dem Fünf-Faktoren-Modell (FFM), einem Modell von Persönlichkeitsdimensionen, sind besonders tolerante Menschen altruistisch, hilfsbereit, mitfühlend und kooperativ. Intolerante Personen werden oft als streitsüchtig, misstrauisch, egozentrisch und eher wettbewerbsorientiert charakterisiert.
Die Studenten wurden außerdem gebeten, einen Kreativitätstest zu meistern, der als Torrance Test of Creative Thinking (TTCT) bekannt ist. Sie mussten sich zum Beispiel möglichst viele originelle Verwendungsmöglichkeiten für einen Alltagsgegenstand, wie eine Blechdose, ausdenken. Wie sich herausstellte, schienen nur Kinder bessere Querdenker zu sein, das heißt, sie konnten Probleme kreativer lösen, vor allem in der Kategorie des flexiblen Denkens. Das, so erklären die Autoren, könnte daran liegen, dass Einzelkinder ohne Geschwister oft auf sich allein gestellt waren und so schon früh gezwungen waren, erfinderisch und einfallsreich zu werden.
Aber das ist noch nicht alles. MRT-Untersuchungen zeigten Unterschiede in der Gehirnstruktur. Im Gyrus supramarginalis, einem kortikalen Bereich, der mit Kreativität und Vorstellungskraft in Verbindung gebracht wird, fanden die Forscher bei Einzelkindern mehr graue Substanz (die mit Intelligenz in Verbindung gebracht wird). Im Frontalhirn, genauer gesagt im medialen präfrontalen Cortex (mPFC), entdeckten die Forscher bei Einzelkindern jedoch weniger graue Zellen als bei Geschwisterkindern. Dieses Defizit ging mit einer geringeren Toleranz einher. Frühere Studien schrieben dieser Hirnregion auch wichtige Funktionen zu, wenn es um die Verarbeitung emotionaler Informationen geht, einschließlich der Fähigkeit, anderen Gefühle zuzuschreiben und die eigenen Emotionen zu regulieren.
Wie groß der Einfluss des Einzelkindseins ist, ist fraglich. Es könnte davon abhängen, wie viele andere Möglichkeiten ein Einzelkind regelmäßig hat, seine sozialen und kognitiven Fähigkeiten zu entwickeln. Schließlich sind Einzelkinder keineswegs vom sozialen Umfeld abgeschnitten – die Kontakte im Kindergarten beispielsweise bieten ein abwechslungsreiches zwischenmenschliches Übungsfeld. Eltern müssen wahrscheinlich mehr daran arbeiten, ihren Einzelkindern soziale Fähigkeiten beizubringen und Gelegenheiten zu schaffen, bei denen die Kinder ihr Spielzeug, ihre Bücher und die elterliche Aufmerksamkeit teilen müssen. Ansonsten scheint die Schaffung einer liebevollen und ruhigen Umgebung wichtiger zu sein als die Anzahl der Kinder in einem Haushalt.